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Der Traum in uns

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Published under: Solberg's Government

Publisher: The Office of the Prime Minister

Eröffnungsrede von Frau Ministerpräsidentin Erna Solberg auf der Frankfurter Buchmesse, 15 October 2019.

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Königliche Hoheiten,
Exzellenzen,
Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Freunde,

 

Der Traum in uns.

Dies ist Norwegens Motto als Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse.

Hier können wir inmitten von Freunden träumen.

Durch die Übersetzungen ins Deutsche haben immer mehr Menschen Freude an norwegischen Autoren.

Viele unserer berühmtesten Autorinnen und Autoren sind nach Deutschland gereist, um sich inspirieren zu lassen und Ideen auszutauschen.

Das Gleiche geschieht auf der politischen Ebene.

Mit Frau Bundeskanzlerin Merkel habe ich heute Erfahrungen und Sorgen geteilt – und Träume.

 

"Träume keine kleinen Träume, denn sie haben keine Macht, die Herzen der Menschen zu bewegen."

So ein Zitat des großen deutschen Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe.

Wir müssen es wagen, zu träumen. Erst dann können Dinge geschehen.

Die Gesellschaft träumt gewissermaßen über ihre Literatur.

Wenn Literatur uns fordert, können wir auch unser Denken in ganz neue Bahnen lenken.

So verändert Literatur uns und unsere Gesellschaft auf Dauer.

Ich finde, wir haben von der Literatur viel zu lernen.

Sie vermittelt uns Visionen, aber auch Wissen über die Welt, in der wir leben.

 

Unsere Welt dreht sich weiter. In den letzten Jahrzehnten haben wir enorme Fortschritte gemacht.

Weniger Menschen leben in extremer Armut. Wir leben länger. Weniger Menschen sterben im Kindesalter. Heute haben mehr Mädchen als je zuvor Zugang zu Bildung.

Internationale Zusammenarbeit, globaler Handel und internationales Recht haben ganz entscheidend zu diesen Erfolgen beigetragen.

Mit den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung hat sich die Welt auf gemeinsame Träume verständigt.

Diese Ziele sind unser Wegweiser in die Welt, die wir uns wünschen.

Mit den Nachhaltigkeitszielen erkennen wir an, dass globale Herausforderungen gleichzeitig nationale Herausforderungen sind.  Und dass wir die Herausforderungen im Zusammenhang sehen müssen.

Zum Beispiel: Weniger Kinder sterben, wenn die Mütter eine Ausbildung erhalten.

Wer lesen lernt und Freude am Lesen findet, bekommt Zugang zu Bildung und noch dazu Zugang zu einer ganz neuen Welt.

Kinder, die lesen, lernen ihre Rechte kennen. Und lernen, dass es Ungerechtigkeit gibt. Als Jugendliche war „Der Kaufmann von Venedig“ eines meiner ersten großen Leseerlebnisse.

Das Buch vermittelte einen Eindruck, wie die Menschen damals über Juden, Frauen und Geld dachten.

Shakespeare zeichnete das Bild einer vielschichtigen und ungerechten Gesellschaftsordnung.

Mit vielen der Herausforderungen, die er schilderte, kämpfen wir heute noch.

Auch die Welt, in der wir leben, ist komplizierter geworden. Unser Wohlstand, aber auch unsere Probleme sind ein Ergebnis globaler Trends.

Wir müssen die Herausforderungen anerkennen und damit umgehen – und gleichzeitig die Vorteile nutzen.

Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass sie an den Gewinnen der Globalisierung nicht beteiligt werden.

Wo Arbeitsplätze früher an die nachfolgende Generation übergeben wurden, verschwinden sie heute.

Gesellschaften verändern sich.

Wir werden auf Widerstand stoßen, wenn die Menschen erleben, dass die Gewinne nur einigen wenigen zu Gute kommen.

 

Der Traum in mir handelt daher von Teilhabe.

Wie stellen wir sicher, dass in einer immer stärker globalisierten Welt niemand ausgegrenzt wird?

Wir müssen dafür Sorge tragen, dass alle sich selbst versorgen können.

Wir müssen zeigen, dass wir Glieder einer Gemeinschaft sind und ein gemeinsames Schicksal haben.

Dies nicht zu tun können wir uns nicht erlauben.  Das wäre nicht nachhaltig.

Als Ministerpräsidentin beschäftigt mich die Frage, wie wir sicherstellen, dass Menschen verschiedener Kulturen gut zusammenleben können.

Dass wir nicht in Parallelgesellschaften leben.

Åsne Seierstads Buch über zwei Schwestern, die nach Syrien reisen, lässt uns die wichtigen Fragen stellen: Was hätten wir als Gesellschaft anders machen können? Was können wir daraus lernen?

Zukünftig wird es noch wichtiger sein, wie wir in Europa Minderheiten integrieren können.

Wir müssen versuchen, den Anderen zu verstehen.

So werden Brücken gebaut.

Drei Autorinnen, die sogenannten "schamlosen Mädchen", tragen dazu bei.

Sie rechnen mit negativer sozialer Kontrolle ab.

Mit ihrem Debutroman „Schamlos“ haben sie einen Nerv getroffen. Nicht nur in Norwegen, sondern in der ganzen Welt.

Sie erschaffen ihre eigene Revolution.

Genau das ist das Thema der Vereinten Nationen und der Kampagne der diesjährigen Frankfurter Buchmesse "Create Your Revolution".

Literatur kann Unrecht in Worte fassen. Und sie kann uns helfen, der eigenen Kultur und den Werten, für die wir einstehen, mehr zu vertrauen.

 

Wenn ich lese, lese ich nicht nur, um mich selbst wiederzuerkennen.

Wenn ich lese, lese ich, um etwas über andere zu erfahren. Und herauszufinden, wie ich und meine Kultur auf andere wirken. Das bringt mich weiter.

Viele Erfahrungen werde ich niemals selbst machen. Hier hilft mir die Literatur.

James Baldwins Geschichten darüber, wie es war, ein schwuler dunkelhäutiger Mann während der Bürgerrechtskämpfe zu sein, habe ich noch heute in Erinnerung.

Innerhalb einer Minderheit in der Minderheit zu sein, das hat mich beeindruckt. Die vielschichtigen Vorurteile, mit denen er konfrontiert wurde. Vorurteile der Gesellschaft im Allgemeinen, aber auch in seiner direkten Umgebung.

In der Welt von heute wollen viele Menschen mit mehreren Identitäten leben.

Dafür muss Raum sein.

 

Die Politik braucht die Literatur.

Wir brauchen konkrete Geschichten, Geschichten aus Sicht des Einzelnen. Dann ist vieles einfacher zu verstehen.

Wir verstehen, die Lebensbedingungen in Diktaturen besser, wenn wir George Orwell [oder Solschenizyn] lesen.

Wir verstehen den Holocaust besser, wenn wir "Das Tagebuch der Anne Frank" lesen.

 

Das Leben aus der Sicht des anderen zu betrachten nützt uns bei allem, was wir als Mitmenschen und als Politiker tun.

Das ist ein Leitthema unserer gemeinsamen Literaturgeschichte.

Und es ist der Kern unserer Politik für Frieden und Versöhnung.

In Friedensverhandlungen dafür zu sorgen, dass die Parteien am Verhandlungstisch bleiben, kann mühevoll sein. Selbst wenn sie freiwillig gekommen sind.

Aber wir beteiligen uns daran, den Parteien eine Alternative aufzuzeigen. Sie suchen nach dem Gemeinsamen, von dem sie vielleicht noch gar nichts wissen.

Das Risiko, dass es misslingt, ist oft hoch. Aber wenn es gelingt, ist es einen Versuch wert.

Frieden und Sicherheit sind eine Voraussetzung für Entwicklung.

Die Lösung von geografisch weit entfernten Konflikten hat auch Auswirkungen auf unsere eigene Sicherheit. Und sie trägt dazu bei, humanitäre Krisen zu lindern.

Wir sind unparteiisch, aber nie werteneutral.

Wir fördern internationales Recht und Menschenrechte.

Auch dort, wo wir auf Widerstand stoßen.

 

Die Werte, die wir vertreten, wie zum Beispiel der Rechtsstaat, die Demokratie, das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Verpflichtung zu internationaler Zusammenarbeit, müssen – wie sich zeigt – täglich verteidigt werden. Auch hier in Europa.

Manchmal fühlt es sich vielleicht so an, als würde sich die Welt rückwärts drehen.

Handelskrieg, internationaler Terrorismus, Klimawandel und weltweite Instabilität geben Grund zur Beunruhigung.

Das Vertrauen schwindet.

Wir sind viele, die diese Sorgen teilen.

Wie wir gehört haben, ist auch Heiko Maas einer dieser Menschen. Norwegen und Deutschland stehen Seite an Seite, um diese Werte zu verteidigen.

 

"Sprache ist Mut: die Fähigkeit, einen Gedanken zu denken, ihn auszudrücken und ihn damit Wirklichkeit werden zu lassen."

So Salman Rushdie in dem Buch, das ihn in die schwierigste Lage brachte, die ein Schriftsteller überhaupt erleben kann. Sein Leben wurde bedroht. Man versuchte, seinen norwegischen Verleger umzubringen.

Das darf nicht sein.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist universell. Wir brauchen unterschiedliche Meinungen, die miteinander ringen.

Viele mutige Autorinnen und Autoren erheben ihre Stimme.

Es kann gefährlich sein, kritisch zu denken. Noch gefährlicher, diese niederzuschreiben.

Deswegen ist es so wichtig, dass wir Übersetzerinnen und Übersetzer haben, die diese Gedanken – die ernsten wie auch die lustigen – in die Welt tragen.

Ohne sie müssen wir allein träumen.

Ohne sie wissen wir nicht, welche kritische Fragen wir stellen müssen.

Ohne sie wissen diejenigen, die uns zum Schweigen bringen wollen, nicht, dass wir alles aufmerksam verfolgen.

In den alten norwegischen Märchen zerplatzen die gruseligen Trolle, wenn die Sonne aufgeht. Die Literatur kann uns die Trolle, die kein Tageslicht ertragen, zeigen.

 

"Ich glaube, ich bin vor allem ein Mensch."

Diesen Satz sagt Nora in Ibsens "Nora oder Ein Puppenheim" zu ihrem Mann.

In der heutigen Zeit ist diese Aussage nicht sonderlich kontrovers, aber als das Theaterstück herauskam, verursachte es ziemlich viel Wirbel.

So war auch die Literatur daran beteiligt, die Gesellschaft dauerhaft zu verändern.

Heute ist es ganz normal, dass auch eine Frau Ministerpräsidentin werden kann. Oder Bundeskanzlerin. Oder was auch immer.

Aber wir können an dieser Stelle nicht einfach aufgeben.

Ich halte ganz klar daran fest, dass alle dazugehören. Dass alle ihren Beitrag leisten können und müssen. Jeder auf seine Weise.

 

Denn der Traum in uns

muss wahr werden.

 

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.